Der Zauberberg

... spielt in Davos in einer Lungenheilanstalt. Hans Castorp wollte seinen Vetter auf drei Wochen besuchen.

Er bleibt letztlich sieben Jahre, weil er nicht mehr loskommt vor Verzauberung, Überhöhung, Entfremdung, Verliebtheit... alles begünstigt durch die Geschäftstüchtigkeit der Anstalt, die schnell eine Krankheit entdeckt und dringend zum ausgiebigen "Auskurieren" rät... Natürlich hier oben in der guten klimatischen Zone!

Der Zauberberg

Eine Szene des Romans, der ihm den Weltruhm eintrug, stellt die Deuter bis heute vor ein Rätsel. In Thomas Manns 1924 beendetem «Zauberberg» reist der junge Hanseat Hans Castorp für drei Wochen in das Sanatorium «Berghof» nach Davos, um dort seinen lungenkranken Vetter zu besuchen. Aus den drei Wochen werden sieben Jahre, weil Castorp dem Bann aus Eros und Tod verfällt, aus dem ihn erst der Ausbruch des grossen Krieges reisst. In der Mitte des Romans, als er dem Flachland schon innerlich entfremdet ist, begibt sich Hans Castorp auf eine Exkursion in die Berge. Der Abschnitt, der die Überschrift «Schnee» trägt, ragt bis heute erratisch aus dem «Zauberberg». Castorp gerät in einen Schneesturm und hat, dem Erfrierungstod nahe, eine lange traumartige Vision. Zuerst sieht er eine südliche Idylle, das Strandleben einer harmonischen Menschengruppe an einem Golf, der ihn an Neapel oder Griechenland erinnert, obwohl er selbst noch nie so weit im Süden war. Dann wechselt die Szenerie, und er betritt schweren Herzens und voller düsterer Vorahnung einen Tempelbau. Die Tür der Tempelkammer steht offen, und die Knie wollen dem Armen brechen vor dem, was er erblicken muss: «Zwei graue Weiber, halbnackt, zottelhaarig, mit hängenden Hexenbrüsten und fingerlangen Zitzen, hantierten dort drinnen zwischen flackernden Feuerpfannen aufs grässlichste. Über einem Becken zerrissen sie ein kleines Kind, zerrissen es in wilder Stille mit den Händen – Hans Castorp sah zartes blondes Haar mit Blut verschmiert – und verschlangen die Stücke, dass die spröden Knöchlein ihnen im Maule knackten und das Blut von ihren wüsten Lippen troff.» Hans Castorp will fliehen, aber kann es nicht, bis er endlich aus seinem Traum erwacht und nach längerer Gedankenarbeit zu dem Fazit gelangt, er wolle dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken. Als Botschaft an die Menschheit wird dieses Ergebnis sogar kursiv gedruckt. Es verblasst aber gleich nach Castorps Rückkehr ins Sanatorium und wird auch vom Erzähler erst auf der letzten Seite wieder aufgegriffen.


Die Tempelszene mit dem blutigen Mahl scheint isoliert und motivisch nicht recht mit dem Roman verbunden. Dieser trügerische Eindruck konnte entstehen, weil man über etwas Entscheidendes hinweggelesen hat. Wovor genau erstarrt Hans Castorp in Horror?


Aber stellen wir diese Frage einen Moment lang zurück, und wenden wir uns ihrem erfreulicheren Anlass zu. Der S.-Fischer-Verlag hat endlich mit der grossen kritischen Thomas-Mann-Ausgabe begonnen. Nach den «Buddenbrooks» und den frühen Essays liegt als deren jüngste Folge seit kurzem «Der Zauberberg» vor; zwei Bände, einer mit dem bereinigten und von Setzfehlern befreiten Text nach der Erstausgabe, der andere mit gründlichen Berichten über die Entstehungsgeschichte, die Quellenlage und die Rezeption, gefolgt von 280 Seiten Stellenkommentar. Hat sich das Warten gelohnt, und sind die Bände ihren hohen Preis wert? Unbedingt – auch wenn wir im Folgenden eine «Zauberberg»-Lesart entwickeln wollen, die im Kommentar nicht zu finden ist. Die Meriten des Herausgebers Michael Neumann sind beträchtlich und beweisen sich nicht zuletzt in dem, was er uns erspart. Sein Kommentarband ist schlank, ganz ohne Philologenbombast, ausnehmend gut geschrieben, frei von akademischer Kraftmeierei und Jargon und immer wieder von jener schwebenden Ironie, die Doktor Cornelius in «Unordnung und frühes Leid» als «nicht nachweisbar» charakterisiert. Man wird nicht auf viele Novitäten stossen, aber alles Wichtige wird in dieser Ausgabe versammelt. Mehr als das, was sie uns ausbreitet, muss kein Mensch auf dieser Welt über den «Zauberberg» wissen.


Ein «Haifischmagen» von einem Roman


Dass der Band dabei schlank bleiben konnte, liegt daran, dass auch Thomas Mann nicht ganz so viel wusste, wie es die Fama will. Der Roman, den er selbst zärtlich ein «schreckliches Untier» nannte, steht im Ruf des Enzyklopädischen. Nicht ganz zu Recht, wie man dank Michael Neumann wieder bemerkt. Nur zu leicht überschätzt man das Quellenmaterial, das ihm zugrunde lag, dem «Haifischmagen» von einem Roman, nach Musils Wort, in den alles passe. Eher ist es ein Spatzenmagen, in dem allerdings jedes Bröckchen gründlich verwertet wird. Die Handbibliothek, die Thomas Mann für den «Zauberberg» benutzte, passt auf einen kleinen Sekretär.


Auch bei der Schlüsselszene des Romans, auf die wir zurückkommen wollen, ist der Kommentar sparsam in seinem Quellenvermerk. Der Forschung zufolge speist sich der grausige Traum aus Euripides’ «Bakchen», Rohdes «Psyche» und Nietzsches «Geburt der Tragödie». Das Dionysische wird dort dem Apollinischen entgegengestellt, das Castorp im ersten Teil seines Schneetraums so südlich hold als Vision aufsteigt. Aber wird durch diese Vorbilder wirklich das schaurige Ritual erklärt? Rohdes «Psyche» schildert das orgiastische Treiben der Mänaden. Was Castorp sehen muss, ist etwas anderes. Im Innern eines Tempels schlachten und fressen Hexen ein kleines Kind. Der simple Sachverhalt des Schneetraums ist, dass Castorp Zeuge einer schwarzen Messe wird. Und genau dadurch ist die erratisch wirkende Szene intim an den Roman angeschlossen. Denn auch darüber las man achtzig Jahre lang hinweg: «Der Zauberberg» handelt davon, wie sein Held in eine satanische Sphäre gerät, deren Einfluss er verfällt. Castorps Welt ist die Welt des Teufels, was der Erzähler uns von Anfang an diskret wissen lässt.


Der hinkende Pförtner


Im August 1914, als er im ersten Kapitel des neuen Romans steht, schreibt Thomas Mann an seinen Verleger Samuel Fischer über den «Widerstreit von civilen und dämonischen Tendenzen im Menschen» als das Problem, das ihn nicht seit gestern ganz beherrsche. Ganz beherrsche? Dämonische Tendenzen? Man hat diesen Hinweis nicht ernst genommen. Dabei genügt es, dem einfachen jungen Bürgersohn zu folgen, der sich für eine Stippvisite in die Berge begibt. Der erste Bote, der ihn aus dem neuen Reich empfängt, ist ein Mann in Livree, der sich Castorps Gepäckschein ausbittet, denn er ist der Concierge des Internationalen Sanatoriums «Berghof».


Der Concierge hat eine kleine, entscheidende Eigenheit: «Der Mann hinkte auffallend.» Wer nicht wüsste, dass das Hinken ein traditionelles Teufelsattribut ist, würde von Herrn Settembrini darüber belehrt, der den Concierge uncharmant genug als «hinkenden Teufel» bezeichnen wird. Hier nun meldet sich der Kommentar zu Wort und zitiert Thomas Manns Schrift über «Faust», derzufolge Goethe bei Mephisto den Pferdefuss durch ein leichtes Hinken ersetzt habe.


Die erste Person, der Hans Castorp im «Zauberberg» begegnet, ist also eine Teufelsfigur. Thomas Mann signalisiert damit in aller Beiläufigkeit, dass der Held bei seiner Ankunft in Davos Dorf in dieselbe Sphäre eintritt wie Dante zum Beginn der «Göttlichen Komödie». In Unauffälligkeit geborgen sind auch die redensartlichen Anrufungen des Teufels, die sofort mit Castorps Einquartierung in Haus «Berghof» einsetzen und deren Systematik man bislang übersah. «Weiss der Teufel, mir ist immer, als wäre ich schamrot im Gesicht...», ruft Hans Castorp nach seiner ersten Nacht am fremden Ort, und als er den gleichen Ausruf gegenüber Settembrini benutzt, muss er sich erklären: «Das mit dem Teufel war nur so eine Redewendung von mir, ich versichere Sie!» Eben weil diese Wendungen redensartlich abgeschliffen sind, glaubt man dieser Versicherung nur allzu leicht. Was als blosse Façon de parler erscheint, zielt aber auf das Innerste des Romans. Alle wichtigen Figuren werden auf diese Weise ins Zwielicht gerückt. Settembrini selbst wird «Satanas» genannt, weil er Castorp einen Vortrag über seinen Lehrer Carducci und dessen Hymne an den Satan hält. Von seinem Gegenspieler, dem im geheimen Luxus lebenden Naphta, sagt Settembrini, er werde vom Teufel «von hinten versorgt». Castorp selbst ist, «ein Teufel rechts und einer links», zwischen seine fragwürdigen Mentoren eingespannt und muss sehen, «wie man in Teufels Namen da durchkommen solle».


Kaum dabei helfen wird ihm die Leitung der Anstalt, das Triumvirat aus Hofrat Behrens, dem psychoanalytischen Assistenten Krokowski und der Oberin Mylendonk. Der Hofrat ist ganz unverhüllt ein «Teufelsknecht» und «Satanskerl»; sein Assistent, klein, fett, schwarz gekleidet, mit dunkel glühenden Augen in einem Gesicht von «phosphoreszierender Blässe», flösst auch nur geringes Vertrauen ein, und von der Oberin behauptet Castorps Vetter Joachim geradeheraus, sie habe ihm etwas angehext, der Teufel solle sie holen. Weitere Hexen stellen sich auf ihren Besen zur Walpurgisnacht ein, der Karnevalsfeier, nach der ein Unterkapitel benannt ist. Am Ende dieses Sabbats verbringt Castorp eine Nacht mit der schönen Hexe und Lilith Chauchat, in deren Gestalt ihm eine homoerotische Liebe seiner Jugend wiederbegegnet. Settembrinis Warnung, dass man dem Teufel nicht den kleinen Finger reichen darf, «ohne dass er die ganze Hand nimmt und den ganzen Menschen dazu...», ist zu diesem Zeitpunkt vergessen.


Nach seiner Liebesnacht mit Clawdia kann Castorp dem dämonischen Bezirk nicht mehr entfliehen. Dieses Dämonische hält sich mittlerweile nicht mehr im Redensartlichen versteckt, sondern hat sich offen auf die Handlungsoberfläche geworfen. Nach seiner Traumvision einer schwarzen Messe nimmt Hans Castorp im Abschnitt «Fragwürdigstes» an spiritistischen Séancen teil. Gleich bei der ersten kreischt eine Teilnehmerin auf, es möge Gnade vor Recht ergehen, «obgleich man die Hölle versucht habe», und auch Castorp will es eigentlich bei diesen «wenigen Flocken Höllenfeuers», die ihn angestoben haben, bewenden lassen. Unterm Flämmchengetänzel des Kaminfeuers aber setzt man die Sitzungen fort, auch Castorp entzieht sich nicht den «Habitués des Nichtgeheuren», die unter der Leitung des im «Sumpfig-Verdächtigen und Untermenschlichen» heimischen Führers Krokowski im Keller ihre Beschwörungen verstärken. Bei der letzten dieser Séancen erscheint Castorps mittlerweile verstorbener Vetter Joachim. Zum Schock des Spiritistenzirkels sitzt er plötzlich mit übergeschlagenem Bein vor ihnen auf einem Stuhl.


Hier, bei diesem allzu starken Stück, merkt auch der Kommentar zum ersten Mal wieder auf. Michael Neumann verweist zu Recht auf ein Vor- und ein Nachbild dieser gespenstischen Erscheinung. Sie deutet voraus auf das fünfundzwanzigste Kapitel im «Doktor Faustus», in dem Adrian Leverkühn in Palestrina der Teufel erscheint. Und sie deutet zurück auf den Ursprung dieser Szene, die Teufelsvision, von der Thomas Mann 1953 in Rom dem Maler Fabius von Gugel erzählt hat. Im steinernen Saal in Palestrina hatte der junge Autor eines Nachmittags auf seinem Sofa einen unbekannten Besucher vorgefunden, den er sogleich als den Teufel erkannt habe. Das Erlebnis überträgt er in den entstehenden Roman.


Der Anmerkungsteil kommt nicht wieder auf die einmal entdeckte Spur zurück. Dabei beginnt gleich nach der Séance der nächste Abschnitt mit dem «Dämon», der nun beim Namen genannt und als Herrscher derer da oben nicht länger verheimlicht wird. «Did you ever see the devil with a night-cap on?» lautet das alberne Gesellschaftsspiel der englischen Kurgäste, das mehr ist als das, nämlich Signum der Macht, in deren Einfluss der «Berghof» endgültig geraten ist.


Die Blumen des Bösen


Der grosse Stumpfsinn regiert und wächst sich zur grossen Gereiztheit aus, in der die Kurgäste einander an die Gurgel gehen und Naphta sich eine Kugel vor den Kopf schiesst. Der Held wird von dieser bösen Macht erst durch den Donnerschlag der historischen Katastrophe befreit. Der Weltkrieg bricht aus, Castorp wird zu den Waffen gerufen, und im letzten Bild sehen wir ihn auf den flandrischen Blutfeldern seinem Ende entgegenstolpern. Er hat dem Dämon den kleinen Finger gegeben, und der lässt ihn nicht entkommen. Noch auf der letzten Seite schliesst Thomas Mann die Klammer, die er mit Hilfe des hinkenden Pförtners geöffnet hatte. Castorp taumelt über das Schlachtfeld, da schlägt schräg vor ihm eine Granate «wie der Teufel selbst tief in den Grund». Der Teufel selbst, personifiziert, schiesst in die Hölle, die sich zum Ende des Riesenromans offen auftut.


Nur wenig von alledem erfahren wir aus dem vorzüglichen neuen Kommentar, der darum beileibe nicht zu verteufeln ist. Der blinde Fleck beweist, dass Thomas Mann aller kritischen Ausgaben wert ist: Man liest ihn so schnell nicht zu Ende, und wer ihn eingefriedet glaubt, dem blühen immer wieder Überraschungen; seien es manchmal auch Fleurs du mal.

Thomas Mann:

Der Zauberberg. Herausgegeben und textkritisch durchgesehen von Michael Neumann.

Grosse kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 5.1.

S.Fischer. 1100 S., Fr. 70.–

Der Zauberberg. Kommentar von Michael Neumann. Grosse kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 5.2., S.Fischer. 522 S., Fr. 82.–