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Sonntagsblatt 1996/34

Gesichtshitze u. Götterdämmerung: Die Verehrer Thomas Manns tagten in Davos

- VON TIM SCHLEIDER -

Ein einfacher Mensch reiste im Hochsommer von Hamburg, seiner Wohnstadt, nach Davos-Platz im Graubündischen. Er fuhr auf Besuch für eine Woche. Ja, so könnten wir diesen Reisebericht beginnen. Aber das wäre kokett, eine allzu prätentiöse Anspielung auf den ersten Absatz eines der berühmtesten Romane der Weltliteratur, Thomas Manns "Zauberberg".

Aber wenn man nun genau das ist, nämlich ein einfacher Mensch aus Hamburg, und wenn man nun genau das tut, nämlich im Hochsommer nach Davos reisen; wenn man schließlich dortselbst auch noch einen Kongreß besucht mit dem Titel "Auf dem Wege zum Zauberberg. Mediziner und Literaturwissenschaftler im Gespräch", dann ist wohl gar nichts anderes möglich, als daß man geradezu magnetisch Anspielungen der einschlägigen Art auf sich zieht. "Ach, Sie sind aus Hamburg? Passen Sie nur auf, daß Sie den Tag Ihrer Rückreise nicht verpassen!"

Die Fakten, kurz und knapp: Im Jahre 1912 verbrachte Katja Mann krankheitshalber Frühjahr und Sommer im Davoser Lungensanatorium des Doktors Jessen. Im Mai kam Ehemann Thomas auf einige Wochen zu Besuch. Und eine Idee ward geboren; die Idee zu einer kleinen, streng begrenzten, humoristischen Novelle über das Leben in einem Sanatorium. Aus der Novelle wurde ein dicker Roman. Erschienen ist er 1924 und schildert sieben Jahre im Leben eines jungen Mannes, Hans Castorp aus Hamburg. Eigentlich will er bei den Kranken hoch droben nur eine dreiwöchige Stippvisite machen, bleibt dann aber, weil selber krank, auf lange Zeit.

Siebzig Jahre später, im August 1996, waren rund 270 Menschen beiderlei Geschlechts und jedweden Alters in das mehr als 1500 Meter hohe Davos gereist, um sich am Orte des Geschehens mit diesem Roman zu befassen. Und man darf sagen: Es waren keineswegs nur Menschen aus Deutschland oder der Schweiz; es waren auch Menschen aus Ungarn, Japan und den USA; es waren mithin Menschen aus aller Welt. Ihnen gesellte sich eine unüberschaubare Schar von Herren unterschiedlichen akademischen Grades zu; man mag sie mit Fug und Recht die Crème de la crème der internationalen Thomas-Mann-Forschung nennen. Sind sie nicht gerade in Davos, wirken sie in Zürich oder Bonn, in Lübeck oder Eichstätt, in Northampton oder Oxford.

Welch bizarre Idee! Es bedarf vermutlich zwingend alpiner Höhenluft, um einen Kongreß zu veranstalten, der eine knappe Woche lang nichts anderes erörtert als einen einzigen Roman. "Ja, eigentlich ist das schon arg lustig, daß wir hier alle beisammen sind", stimmte uns eine etwas vertrutschte Architektin aus dem Hannöverschen beim Morgenkaffee zu. "Aber es ist doch auch großartig. Wir sind in Davos! In Davos! Hier hat sich schließlich alles abgespielt! So ein Kongreß in Ulm, das wäre gleich ganz was anderes. Nein, also nach Ulm würde ich deswegen nicht fahren."

"Bedenken Sie", rief uns einige Stunden nach diesem Morgenkaffee Volker Gürke, Pfarrer im Ruhestand, zu, "Sie sind an einer Stätte der Weltliteratur!" Gut, daß er noch mal dran erinnerte, denn gerade in jenem Augenblick drohte uns solches Wissen zu entgleiten, hatte sich die Zuhörerschaft doch im bunkerhaften, aseptisch ausgeleuchteten Versammlungssaal der Höhenklinik Valbella eingefunden, und das ganze Ambiente ließ eher an Flucht denn an Weltliteratur denken. Es war Nachmittag, und man befand sich im Stadium der Ortsbesichtigungen. So frisch und frei nach dem Motto: Wenn man schon mal da ist, wo sich alles zugetragen hat, dann will man auch ein bißchen was davon zu sehen kriegen. Wo stand denn nun das Sanatorium? Genau, Seite 12: rechts vom Eisenbahngeleise, an bewaldetem Hang, auf niedrig vorspringendem Wiesenplateau.

Doch, wie das so ist mit den Schriftstellern - Thomas Mann hat sich in Davos zwar vielerlei Anregungen geholt, auch manche Vorlage; er hat das Ganze aber doch recht frei zusammengestrickt. Vom Valbella die Fassade, vom "Berghof" schräg gegenüber das Innere; dazu noch ein bißchen Atmo aus Arosa, wo Gattin Katja auch mal war. Das alles ist sein gutes Recht, vielleicht gar seine Pflicht; schließlich nannte er sich Schriftsteller und nicht Journalist.

Doch der Fall wiegt noch schwerer: Vor vielen, vielen Jahren muß die Valbella-Klinik mal über eine interessante Fassade verfügt haben - "ein langgestrecktes Gebäude mit Kuppelturm, das vor lauter Balkonlogen von weitem löchrig und porös wirkte wie ein Schwamm", so der Meister. Aber all das ist lange her, vormals, ehedem; in den alten Tagen, bevor die europäischen Architekten die urwüchsige Kraft des Betons und die schlichte Schönheit des Flachdachs entdeckten. Ja, diese Höhenklinik Valbella, in die wir Pfarrer Gürke auf unserer Ortsbesichtigung gefolgt sind, allesamt in der Hoffnung, dort etwas wiederzuentdecken von der alten Welt des "Zauberbergs", dieses frühere "Internationale Sanatorium" präsentiert sich uns in einer recht spröden Verfassung, einer Gestalt, wie sie auch mühelos in Bremen-Blumenthal zu finden ist, wir können das bezeugen.

Immerhin zeigt Pfarrer Gürke dann "Lichtbilder aus alten Zeiten". "Trotzdem, schade ist es", mault ein Arzt aus dem Aachener Raum, der, um bei der "Zauberberg"-Woche dabeizusein, daheim extra eine Praxisvertretung organisiert hat. "Es wäre schon schön, wenn's noch so schön wäre."

Da ist es für die Besucher doch sicherer, des Vormittags oder am Abend ins Davoser Kongreßzentrum zu strömen, wo in einem insgesamt eher schmucklosen Saale des Kellergeschosses die Wissenschaftler ihre Vorträge halten. Nun wollen wir mal einen Moment lang recht ernst werden, wie es unser Gegenstand, der "Zauberberg"-Roman, und unsere Protagonisten, die Thomas-Mann-Forscher, immerhin befindlich auf einem Gipfeltreffen, zweifellos erfordern. Elf Jahre hat Thomas Mann am Werke geschrieben, hat heftig daran gearbeitet und gebastelt und verworfen und verbessert und weggeschlossen und wieder hervorgeholt, eben all das, was man in so einer Zeit mit einem Manuskript anstellen kann. Der "Zauberberg" ist recht dick - haben wir das schon exakt vermerkt? 759 Seiten zählt das Fischer Taschenbuch in 237. Auflage von 1981 - inzwischen ist noch manche Auflage hinzugekommen.

759 Seiten, die von einem jungen Mann erzählen und von sieben Jahren, die dieser junge Mann in einem Lungensanatorium verbringt, gemeinsam mit seinem Vetter Joachim Ziemssen (der leider stirbt, obwohl er, siehe Seite 189, von sehr attraktiver Gestalt ist), gemeinsam mit dem Doktor Behrens und dem Psychiater Krokowski, gemeinsam mit Frau von Mylendonk und Herrn Settembrini und Miss Robinson und Herrn Naphta und Madame Chauchat und Herrn Wehsal und Mynheer Peeperkorn und wie sie alle heißen; eine bunte Menschenschar, die viel mehr ist als eine zufällige Internationale der Lungenkranken, die vielmehr zu Recht ein buntes Panorama, auch Panoptikum an Gedanken, Ideen, Leidenschaften, Träumen, Abgründen, Scherzen, Gehässigkeiten zu nennen ist und in dieser Eigenschaft nicht nur den jungen Castorp, sondern auch die Leserschaft durchaus zu verwirren vermag. Mithin: Der "Zauberberg" bedarf der Deutung. Dafür die Wissenschaft.

In Davos wurde diesbezüglich viel geboten. Um ein wenig zu raffen: Man kann den "Zauberberg" im Lichte der Philosophie Friedrich Nietzsches lesen. Das geht. Und es geht gut. Man kann ihn aber auch im Lichte der Philosophie Arthur Schopenhauers lesen. Das geht. Und ebenso gut. Auch ein Vergleich gerade des Schlußsatzes mit der Schlußszene von Wagners "Götterdämmerung" bietet manchen Aufschluß. Weiterhin kann man das Verbindende zum Werk des Bruders Heinrich darstellen, und es bleibt doch genug übrig, um auch das Trennende nicht außer acht zu lassen.

Die Frage drängt, wie wir uns bei alledem fühlten. Nun, wir fühlten uns ein bißchen - erhitzt. Und haben zur Sicherheit Temperatur gemessen, digital: 37,02 am Montag, 36,86 am Dienstag; 37,36 am Mittwoch nachmittag, dazu Schluckbeschwerden irgendwo im Schlund ganz hinten links. Tapfer haben wir trotzdem im Kellergeschoß ausgeharrt und waren doch ein wenig in Furcht, daß uns bei allem Nietzsche und der ganzen "Götterdämmerung" und all den Schopenhauereien, daß uns also bei und über alledem verlorengeht, warum wir den "Zauberberg", diese unmögliche Schwarte, ein so saumäßig gutes Buch finden, so derart beinahe unbeschreiblich obergut, daß wir beim Nachdenken geradezu Gesichtshitze zulegen.

Es fiel uns zum Glück wieder ein. Dank Terence James Reed. Welch ein Name! Terence James Reed lehrt Literatur am Queen's College in Oxford. Und er meint, daß der erste große Weltkrieg, der die Sanatoriums-Gesellschaft des "Zauberbergs" auf Seite 750 jäh verwirft, daß sich also die Frage nach dem Grund dieses Krieges durch den ganzen Roman zieht. Noch mehr: daß Hans Castorp in seinen sieben Zauberberg-Lehrjahren zwar kein Rezept gegen diesen Krieg findet, wohl aber ein Prinzip - die Mündigkeit des Individuums, Selbständigkeit in Denken und Handeln, persönliche Autonomie; mithin die Grundgedanken europäischer Aufklärung. Wobei der Dichter mit gutem Grund offenlasse, ob dies wenige als Gepäck ausreicht, um einen Krieg zu überleben. Vielleicht aber hätte es ja genügt, kommende Kriege zu verhindern. Reed bezeichnete Manns Haltung als "Pessoptimismus" - man wisse um das Schreckliche und strebe doch das Gute an.

Jajaja, klatschten wir da in die Hände. Leute, es ist August 1996, und er muß wohl sein, der eine oder andere resümierende Blick auf dieses Jahrhundert. Und da kommen wir um das deutsche Bürgertum nicht herum und um die Frage, warum es eigentlich so hoffnungslos versagt hat. Warum es seine Männer nach Verdun ziehen ließ und warum es die Weimarer Republik nicht mochte und warum es Hitler unterstützte und warum es hinterher von allem nichts wissen wollte. Warum, warum, warum?

Wer das wissen will, der lese Thomas Mann, der dieses deutsche Bürgertum in all seinen Ambivalenzen zum Ausdruck gebracht hat. Mit all dem Nietzsche und Goethe und Wagner, mit all der Aufklärung, all dem Okkulten, mit all den guten Tischmanieren und all dem Erhobenen und Erhabenen, dazu noch jede Menge gründlich Verklemmtes. "Der Zauberberg" ist die große Kleider- und Klamottentruhe des deutschen Bildungsbürgers, und wer etwas verstehen will vom deutschen Bürger, der darf drin wühlen.

Nochmals zu Mister Terence James Reed, dem Herrn aus Oxford. Er fügte nämlich noch etwas hinzu, das uns wichtig erschien: "Noch immer verweigert man Thomas Mann die Rolle des Politischen, gerade in Deutschland. Dabei war er politisch weitsichtiger als viele andere. Vielleicht nimmt man ihm gerade das übel."

Über all das war es Samstag geworden. Es hieß wieder heimwärts fahren. Wir saßen in der Rhätischen Bahn, die mit streng angezogener Bremse zu Tale fuhr, und sinnierten über jenen Satz, den Thomas Mann seinen Helden Hans Castorp denken läßt, als es ihm im Kapitel "Schnee" beinah an den Kragen geht. Diesen Satz - wir sind autorisiert, ihn hier zentral zu heißen - ließ der Autor um der Einfachheit willen gleich in Kursiv drucken, und er lautet: "Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken." Seite 523, so mittendrin. Weiterdenken ging dann aber nicht. Die rhätischen Bremsen quietschen gar zu laut.

Davoser Tourismus

Wo ist der Zauberberg?

Der Schweizer Lungenkurort Davos wandelte sich zum modernen, boomenden Sport- und Tagungsplatz.

Ist jemand gestorben? Nach einer der hier allgegenwärtigen Katastrophen sieht es jedenfalls aus im Zimmer ganz links, erste Etage. Die mehrteilige Streifenmatratze des Schleiflackbetts ist abgezogen, darauf liegt noch ein blutbeflecktes Tuch herum. Sollte es eine finale Attacke gewesen sein, die eine Person hier erlitten hat, so war der Zeitpunkt zum Abtransport ihrer sterblichen Hülle günstig. Denn im festlich dekorierten Speisesaal versammelt man sich soeben zu einer jener opulenten Mahlzeiten, während deren von jeher unauffällig die Leichen fortgeschafft werden. So eingespielt sind Exitus und Neuzugang, daß die Liegekurenden auf ihren sonnigen Bogenterrassen den Vorgang vermutlich wieder mal verdösen werden.

Ein Davoser Tuberkulose-Sanatorium vor dem Ersten Weltkrieg. Das Krankenzimmer ist schätzungsweise 20 mal 20 Zentimeter groß, das Stubenmädchen hat die Höhe eines Bleistifts, das weißemaillierte Waschbecken den Umfang einer Streichholzschachtel, die mattgläserne Deckenlampe ist fingerhutklein. Wir blicken in ein Puppenhaus. Woher die nicht unmakabre Rarität im Davoser Spielzeugmuseum stammt, ist unbekannt, ebenso der Fabrikateur, der eine Lungenheilstätte so penibel nachbildete.

Draußen, unter einer "Himmelsbläue von so übertriebener Tiefe, daß sie ins Schwärzliche spielt", rumpelt auf der verschneiten Promenade von Dorf nach Platz das zeitgenössische Davos seiner Wege, gesund und munter, die Snowboards und Plastikrodel und Carving-Skier zur Schatzalp- oder Jakobshorn-Seilbahn wuchtend. Es ist nicht mehr viel, was in diesem vorgeblich größten Bergsportort der Welt - 350 Kilometer Abfahrtspisten, 2,5 Millionen Touristen-übernachtungen per annum - noch an die Vergangenheit der Schwindsüchtigen erinnert, die aus dem abgeschiedenen Walserdorf seinerzeit einen repräsentativen Versammlungsort der internationalen Gesellschaft machten, ihrer lädierten oder gar moribunden Exponenten freilich.

"Welcher Berg ist denn nun dieser Zauberberg?" wird im Tourismusbüro immer wieder mal von ahnungslosen Sportsnaturen nachgefragt, was an jenen verwirrten, von Thomas Mann in einem Brief erwähnten Engländer erinnert, der sich in Davos erkundigte: "Where is the German san-atorium of Dr. Mann?" Die manchmal etwas verbissenen aficionados literarischer Spurensuche haben die Davoser Thomas-Mann-Lokalitäten inzwischen längst entschlüsselt, aber für den Neuling herrscht immer noch ein arges Schauplatz-Durcheinander:

Ein hochgiebeliges Appartementhotel namens Zauberberg hat nichts mit dem Roman zu tun; das Berghotel Schatzalp, das mit seinen Jugendstillaternen und altmodischen Holzbalustraden weitgehend stilrein die Jahrhundertwende-Atmosphäre des Buches widerspiegelt, leider auch recht wenig. Das historische Vorbild für den Zauberberg, das Sanatoriumsgebäude, in welchem Hans Castorp sieben Jahre lang der Welt abhanden kam, ist heute ein sachlicher Siebziger-Jahre-Kasten mit Rustikalbeizbalkons und der weithin leuchtenden Neonschrift "Waldhotel Bellevue" auf dem Flachdach, voilà der Magic Mountain - hier war's.

Wie viele Originalflair-Erschnüffler sind wohl auf diesem Parkplatz, angesichts von verglastem Sole-Hallenbad und ausgehängter Speisekarte mit "Thomas-Mann-Menü", schon gehöriger Entzauberung anheimgefallen? Die dürfte dann zumindest der Erkenntnis dienen, daß die gesuchte Welt im Buch und sonst nirgendwo vorhanden ist, daß das erhoffte Hoch- oder auch Versunkenheitsgefühl sich nur aus dem Erfundenen, nicht aus dem möglicherweise relikthaft Aufzufindenden speisen kann. Und doch... Warum überläuft es einen halt dennoch bedeutungsvoll, wenn man einen Espresso auf einem jener schlichten Art-nouveau-Stühlchen trinkt, auf denen schon Frau Plür und Frau Maus gesessen haben müssen, der Herrenreiter oder ein Mitglied des Vereins halbe Lunge? Ganze drei dieser Sitzmöbelchen aus dem vormaligen Waldsanatorium Dr. Jessen sind im heutigen Vier-Sterne-Hotel noch präsent - und diese Patienten gab es im Jahre 1912 tatsächlich, als, wie tausendfach kolportiert, Katia Mann dort oben ein halbes Jahr ihre leicht angegriffene Lunge kurierte.

Als ihr damals schon hochberühmter Gemahl sie für ein paar Frühsommerwochen besuchte und sich begierig erzählen ließ von den Absonderlichkeiten des lungenkranken Lebensstils, der "febrilen Hermetik" zwischen Fiebermessen und Flirt, dem "guten und schlechten Russentisch", dem blinden Schweinchenzeichnen, dem nächtlichen Liebeswandel über die Verbindungsbalkons, dem pfeifenden Pneumothorax der Leonie Hirschfeld, die im Zauberberg dann zu Hermine Kleefeld wurde, "in grünem Sweater, mit schlecht frisiertem Haar und dummen, nur halb geöffneten Augen".

"Dein Tagespensum sei nur dies: Iß, lieg und iß! Iß, lieg und iß!"

So sind es nur zwei Vitrinen mit ein wenig Laborzubehör, altem Hotelsilber, einer zweibändigen Zauberberg- Erstausgabe von 1924, an denen Literaturpilger ihre Augen weiden können. Und eine rekonstruierte Krankenstube, von außen beleuchtbar, hinter Glas, deren klinisches Weiß und blecherne Spuckschüssel auf dem Boden aber manche Hotelgäste derart irritieren, daß sie die Leitung ersuchen, doch bitte "mit einem Vorhang das ganze alte Zeug zuzuhängen".

Immer noch, so scheint es, kann die Erinnerung an die "weiße Pest" Gruseln erzeugen. Dabei hat man in Davos wahrhaft fundamentale Arbeit geleistet, um das Andenken an jene drückenden, wiewohl gewinnbringenden Zeiten zu tilgen, als Nichtinfizierte nur mit einem Taschentuch vor Mund und Nase über die Promenade hasteten und als im "Flachland" schon bei einem leichten Huster der böse Witz "Letzte Grüße aus Davos" grassierte. In den Anfangsjahren der lang dauernden Höhenluft-Liegekuren für Tbc-Kranke, bis Robert Koch den Erreger entdeckte, hielt man diffuse "Miasmen" für den Infekt verantwortlich. Bevor man mit Hygiene und Desinfektion einschritt, steckten sich zahlreiche Schweizer Bauernkinder bei den Fremden an, und auch die einheimischen Familien, die mit nicht sonderlich sterilem Pensionsbetrieb ein paar Franken verdienen wollten, hatten immer wieder eigene Opfer zu beklagen.

Ob die Liegekuren in Davos, Arosa oder Leysin, bei denen man oft Monate, "eingepackt wie eine ebenmäßige Walze auf seinem vorzüglichen Liegestuhl", in dünner Luft verdämmerte, wirkliche Heilerfolge bewirkten, ist höchst fraglich. Siebzig Prozent der an offener Tuberkulose Erkrankten waren zu Anfang des Jahrhunderts auch nach langen Sanatoriumsaufenthalten tot. Bei leichteren Fällen konnte die Höhenkur nach der Maxime: "Dein Tagespensum sei nur dies: Iß, lieg und iß! Iß, lieg und iß!" zumindest lebensverlängernd wirken, auf jene hochbequeme, "liederliche" Art der "horizontalen Lebensweise", die im Zauberberg eine Metapher für das Übel der weichen, unbeteiligten Passivität ist, für die Gefahr sanft hingegebener Todesverliebtheit.

Als der Roman erschien, war Davos begreiflicherweise entsetzt. Thomas Mann mochte noch so oft und rechtens versichern, sein Werk sei ein großes philosophisches Gefüge, das letztlich der Menschenliebe verpflichtet sei und nicht von, sondern nur zufällig in Davos handle. Der Kurort fühlte sich zutiefst verunglimpft in seinen wohltätigen Bestrebungen, die Chefärzteschaft sah sich als Geschäftemacher-clique geschmäht, und berühmt ist das Zitat des nachmalig ziemlich deutschnational aufgefallenen Professor Turban geworden, der das Buch ein "übles Destillat einer üblen Zeit" (gemeint ist die Weimarer Republik) nannte und dem "Sensationsroman" baldiges Vergessenwerden prophezeite. Kein instinktsicheres Orakel.

Der Besucher der Agglomeration Davos, der in Mannsches Milieu einzutauchen wünscht, vergißt besser allzu große Hoffnungen auf zauberbergartige Veduten. Davos ist selbstbewußt, klotzend-statt-kleckernd modern, etwas kraftmeierisch. Schon der Lungenpatient Klabund fühlte sich an "eine amerikanische Stadt, an den Hängen der Rocky Mountains", erinnert. Und der kannte die Zweitwohnungskästen noch nicht, die Sichtbeton-Hotelburgen, die drei barbarischen Einkaufszentren gleich neben der Spitzhelmkirche von Platz, die Ernst Ludwig Kirchner so oft gemalt hat.

Es hat etwas Bizarres, leicht Unglaubhaftes, dieses Ballungsgebiet so hoch im Gebirge, so nah unter dem Himmel, mit seinen Flachdächern und städtischen Straßenzügen, dem mammutartigen Kongreßzentrum und den ragenden Verglasungen. Es ist, als hätte man in den Jahren der brachialen Umgestaltung vom Kurort zum boomenden Sport- und Tagungsdorado jeglichen Fin-de-siècle-Restcharme austreiben müssen. Die paar noch vorhandenen Türmchenvillen, Vorkriegs-Grandhotels, altmodisch verglasten Veranden, laubgesägten Giebel und Gauben wirken wie Inselchen inmitten hochpowernder Funktionalität. Vorsichtig warnt neuerdings das Tourismus-Büro, daß ungebremste Expansion "gesicherte Qualitäten beeinträchtigen" könnte, daß High-Tech im Tourismus zwar wichtig, "High-Touch", was immer das heißt, aber wichtiger sei.

Den etwas nostalgisch gestimmten Gast befällt aber schon heute Melancholie, wenn er auf alten Fotos sieht, was alles dahingegangen ist: das elegante Kurhaus an der Promenade (heute erhebt sich hier eine grünlich verglaste Mischung aus Treibhaus- und Hyatt-Regency-Architektur), das Speiserestaurant Tiedge, das der Volksmund in Sanatoriumszeiten derb-schwyzerisch "Speutz-Trüggli", hochdeutsch "Spucktröglein", hieß, der Laden für Wollgarne und Merceriewaren der Schwestern Valär.

Seinen Frieden kann er immer noch in der gelassenen Kaffeehausatmosphäre der Confiserie Schneider finden, in den freundlichen Bibliotheken des sommerfrischeartigen Schweizerhauses, auf einer Bank in gleißender Wintersonne am Eislaufplatz, wo es aus den Lautsprechern passenderweise "Du und ich unter spanischen Sternen" knödelt. An solchen Orten ballen sich auch die "Freiluftgecken und Schicksportler" nicht so sehr, die schon Hans Castorp, erklärtermaßen wie sein Schöpfer "kein Sportsmann", gerne mied. "Jazzercise und Body Sculpting" im "Profitness"-Center hätten ihn zweifellos konsterniert, und wenn er sich schon über die "wollene Hosentracht" von Hermine Kleefeld mokierte, wie erst hätten ihn türkisfarbene Goretex-Overalls und das klumpfüßige Schuhwerk heutiger Skiläufer erstaunt.

In einem Brief an Hans Reisiger schrieb Thomas Mann Jahre nach der Arbeit am Zauberberg: "...und meine Augen beginnen sich zu öffnen für die winterliche Natur-Größe dieses Thals, dieser von der Civilisation bequem gemachten Hoch-Natur, die aber für mich immer ein Gesicht behält, als ob sie im Grunde nicht mit sich spaßen ließe, und zu der ich mich ganz verhalte wie Hans Castorp: ehrerbietig und etwas verschüchtert, fast fromm, möchte ich sagen, so daß es mich immer etwas ärgert, wie der bürgerliche Sportpöbel sich so leichtsinnig und ohne Gefühl für ihre stille Drohung darin tummelt."

Die Schilderung der hochalpinen Landschaft um Davos gehört zu den bewegendsten Passagen im Buchkosmos des Zauberbergs . Wenn Joachim Ziemssen über die baumgrenzennahe Umgebung des Berghofs klagt: "Wir alle hier oben haben sie unbeschreiblich satt", so liegt das an seiner fatalen Kondition, denn in seiner tiefverschneiten Winterszenerie ist Davos, den Förderkapazitäten von fünf Seilbahnen zum Trotz, noch ganz und gar "bei sich". Wenn der Sonnenaufgang eine Kante des spitzigen Tinzenhorns rot aufleuchten läßt, während andere Flanken und Lehnen noch in gletscherigem Nachtblau liegen, wenn die silbrige Sonnenscheibe aus dem Wabernebel taucht und einer einzigen Felswand Schärfe und Kontur verleiht - dann ist das Zauberische, das dem Alltag so Ferne dieser wilden, erhabenen Zone noch vollkommen gegenwärtig. Und auch unter den hohen Bögen der Schatzalp-Terrasse könnte man in Stimmungen fallen, die wie 1912, wie immer, zeitlos sind. Von diesem Plateau aus liegen, bei unablässigem Flockentanz, Platz und Dorf Davos versunken wie Vineta; rundherum nur kreiselndes, schimmerndes Nichts und im Vordergrund eine einzelne, zieratreiche Jugendstillaterne im Schnee. Kein Wunder, daß sich immer wieder Schatzalp-Besucher ganz sicher sind, hier oben hätten sie ihn endlich gefunden, ihren Zauberberg.

Ein unvergleichlicher Ort zum Tagträumen, dieses alte Hotel mit seiner Art-nouveau-verglasten Halle, den Schwanengemälden im Speisesaal, der Bibliothek mit ihren Hunderten von Bänden, die speziell für das vormalige Luxussanatorium in weiches, rotes Leder gebunden wurden. Mit dem alten Humidor in der Bar, den leger gruppierten, patinierten Fauteuils und Sofas, den luxuriösen Armaturen von ehedem in den Bädern, dem angejahrten Gitterfahrstuhl und den Samtwürsten, die in den Doppelfenstern die Kälte fernhalten. In diesem Haus, dem zum Glück die Mittel für massive Sanierungsmaßnahmen fehlten, als die Davoser Hotellerie mehrheitlich der Moderne anheimfiel, das aber in diesem Sommer wegen Renovierungen geschlossen bleibt, fällt es leicht, sich mancherlei Geschehen aus dem Zauberberg vorzustellen. Hier wird Tango getanzt, wie schon im Kapitel Fülle des Wohllauts, hier ließe sich mühelos "Zeit vernichten kraft inneren Virtuosentums", hier blüht im Schachzimmer womöglich die Medisance. Und vielleicht erhebt sich auch einmal, nach einem Thé dansant eine Dame "mit Tapirgesicht und spielt auf der Geige das Largo von Händel". Wohl nicht sieben Jahre wie Hans Castorp ab 1907, aber sieben Wochen aus der Welt zu fallen, das möchte man sich auf der Schatzalp, zu Ende dieses Jahrhunderts, schon wünschen.

Thomas Mann: Der Zauberberg, Fischer Taschenbuch, Frankfurt/Main 1991; 24,90 DM.

Davos Tourismus, Promenade 67, CH-7270 Davos Platz, Tel. 0041-81/4152121, Fax 4152100.

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