Sekundäres

Schleider - Wunderlich - Sprecher

1. Tim Schleider im DS 1996

Gesichtshitze und Götterdämmerung: Die Verehrer Thomas Manns tagten in Davos

- VON TIM SCHLEIDER -

Ein einfacher Mensch reiste im Hochsommer von Hamburg, seiner Wohnstadt, nach Davos-Platz im Graubündischen. Er fuhr auf Besuch für eine Woche. Ja, so könnten wir diesen Reisebericht beginnen. Aber das wäre kokett, eine allzu prätentiöse Anspielung auf den ersten Absatz eines der berühmtesten Romane der Weltliteratur, Thomas Manns "Zauberberg".

Aber wenn man nun genau das ist, nämlich ein einfacher Mensch aus Hamburg, und wenn man nun genau das tut, nämlich im Hochsommer nach Davos reisen; wenn man schließlich dortselbst auch noch einen Kongreß besucht mit dem Titel "Auf dem Wege zum Zauberberg. Mediziner und Literaturwissenschaftler im Gespräch", dann ist wohl gar nichts anderes möglich, als daß man geradezu magnetisch Anspielungen der einschlägigen Art auf sich zieht. "Ach, Sie sind aus Hamburg? Passen Sie nur auf, daß Sie den Tag Ihrer Rückreise nicht verpassen!"

Die Fakten, kurz und knapp: Im Jahre 1912 verbrachte Katja Mann krankheitshalber Frühjahr und Sommer im Davoser Lungensanatorium des Doktors Jessen. Im Mai kam Ehemann Thomas auf einige Wochen zu Besuch. Und eine Idee ward geboren; die Idee zu einer kleinen, streng begrenzten, humoristischen Novelle über das Leben in einem Sanatorium. Aus der Novelle wurde ein dicker Roman. Erschienen ist er 1924 und schildert sieben Jahre im Leben eines jungen Mannes, Hans Castorp aus Hamburg. Eigentlich will er bei den Kranken hoch droben nur eine dreiwöchige Stippvisite machen, bleibt dann aber, weil selber krank, auf lange Zeit.

Siebzig Jahre später, im August 1996, waren rund 270 Menschen beiderlei Geschlechts und jedweden Alters in das mehr als 1500 Meter hohe Davos gereist, um sich am Orte des Geschehens mit diesem Roman zu befassen. Und man darf sagen: Es waren keineswegs nur Menschen aus Deutschland oder der Schweiz; es waren auch Menschen aus Ungarn, Japan und den USA; es waren mithin Menschen aus aller Welt. Ihnen gesellte sich eine unüberschaubare Schar von Herren unterschiedlichen akademischen Grades zu; man mag sie mit Fug und Recht die Crème de la crème der internationalen Thomas-Mann-Forschung nennen. Sind sie nicht gerade in Davos, wirken sie in Zürich oder Bonn, in Lübeck oder Eichstätt, in Northampton oder Oxford.

Welch bizarre Idee! Es bedarf vermutlich zwingend alpiner Höhenluft, um einen Kongreß zu veranstalten, der eine knappe Woche lang nichts anderes erörtert als einen einzigen Roman. "Ja, eigentlich ist das schon arg lustig, daß wir hier alle beisammen sind", stimmte uns eine etwas vertrutschte Architektin aus dem Hannöverschen beim Morgenkaffee zu. "Aber es ist doch auch großartig. Wir sind in Davos! In Davos! Hier hat sich schließlich alles abgespielt! So ein Kongreß in Ulm, das wäre gleich ganz was anderes. Nein, also nach Ulm würde ich deswegen nicht fahren."

"Bedenken Sie", rief uns einige Stunden nach diesem Morgenkaffee Volker Gürke, Pfarrer im Ruhestand, zu, "Sie sind an einer Stätte der Weltliteratur!" Gut, daß er noch mal dran erinnerte, denn gerade in jenem Augenblick drohte uns solches Wissen zu entgleiten, hatte sich die Zuhörerschaft doch im bunkerhaften, aseptisch ausgeleuchteten Versammlungssaal der Höhenklinik Valbella eingefunden, und das ganze Ambiente ließ eher an Flucht denn an Weltliteratur denken. Es war Nachmittag, und man befand sich im Stadium der Ortsbesichtigungen. So frisch und frei nach dem Motto: Wenn man schon mal da ist, wo sich alles zugetragen hat, dann will man auch ein bißchen was davon zu sehen kriegen. Wo stand denn nun das Sanatorium? Genau, Seite 12: rechts vom Eisenbahngeleise, an bewaldetem Hang, auf niedrig vorspringendem Wiesenplateau.

Doch, wie das so ist mit den Schriftstellern - Thomas Mann hat sich in Davos zwar vielerlei Anregungen geholt, auch manche Vorlage; er hat das Ganze aber doch recht frei zusammengestrickt. Vom Valbella die Fassade, vom "Berghof" schräg gegenüber das Innere; dazu noch ein bißchen Atmo aus Arosa, wo Gattin Katja auch mal war. Das alles ist sein gutes Recht, vielleicht gar seine Pflicht; schließlich nannte er sich Schriftsteller und nicht Journalist.

Doch der Fall wiegt noch schwerer: Vor vielen, vielen Jahren muß die Valbella-Klinik mal über eine interessante Fassade verfügt haben - "ein langgestrecktes Gebäude mit Kuppelturm, das vor lauter Balkonlogen von weitem löchrig und porös wirkte wie ein Schwamm", so der Meister. Aber all das ist lange her, vormals, ehedem; in den alten Tagen, bevor die europäischen Architekten die urwüchsige Kraft des Betons und die schlichte Schönheit des Flachdachs entdeckten. Ja, diese Höhenklinik Valbella, in die wir Pfarrer Gürke auf unserer Ortsbesichtigung gefolgt sind, allesamt in der Hoffnung, dort etwas wiederzuentdecken von der alten Welt des "Zauberbergs", dieses frühere "Internationale Sanatorium" präsentiert sich uns in einer recht spröden Verfassung, einer Gestalt, wie sie auch mühelos in Bremen-Blumenthal zu finden ist, wir können das bezeugen.

Immerhin zeigt Pfarrer Gürke dann "Lichtbilder aus alten Zeiten". "Trotzdem, schade ist es", mault ein Arzt aus dem Aachener Raum, der, um bei der "Zauberberg"-Woche dabeizusein, daheim extra eine Praxisvertretung organisiert hat. "Es wäre schon schön, wenn's noch so schön wäre."

Da ist es für die Besucher doch sicherer, des Vormittags oder am Abend ins Davoser Kongreßzentrum zu strömen, wo in einem insgesamt eher schmucklosen Saale des Kellergeschosses die Wissenschaftler ihre Vorträge halten. Nun wollen wir mal einen Moment lang recht ernst werden, wie es unser Gegenstand, der "Zauberberg"-Roman, und unsere Protagonisten, die Thomas-Mann-Forscher, immerhin befindlich auf einem Gipfeltreffen, zweifellos erfordern. Elf Jahre hat Thomas Mann am Werke geschrieben, hat heftig daran gearbeitet und gebastelt und verworfen und verbessert und weggeschlossen und wieder hervorgeholt, eben all das, was man in so einer Zeit mit einem Manuskript anstellen kann. Der "Zauberberg" ist recht dick - haben wir das schon exakt vermerkt? 759 Seiten zählt das Fischer Taschenbuch in 237. Auflage von 1981 - inzwischen ist noch manche Auflage hinzugekommen.

759 Seiten, die von einem jungen Mann erzählen und von sieben Jahren, die dieser junge Mann in einem Lungensanatorium verbringt, gemeinsam mit seinem Vetter Joachim Ziemssen (der leider stirbt, obwohl er, siehe Seite 189, von sehr attraktiver Gestalt ist), gemeinsam mit dem Doktor Behrens und dem Psychiater Krokowski, gemeinsam mit Frau von Mylendonk und Herrn Settembrini und Miss Robinson und Herrn Naphta und Madame Chauchat und Herrn Wehsal und Mynheer Peeperkorn und wie sie alle heißen; eine bunte Menschenschar, die viel mehr ist als eine zufällige Internationale der Lungenkranken, die vielmehr zu Recht ein buntes Panorama, auch Panoptikum an Gedanken, Ideen, Leidenschaften, Träumen, Abgründen, Scherzen, Gehässigkeiten zu nennen ist und in dieser Eigenschaft nicht nur den jungen Castorp, sondern auch die Leserschaft durchaus zu verwirren vermag. Mithin: Der "Zauberberg" bedarf der Deutung. Dafür die Wissenschaft.

In Davos wurde diesbezüglich viel geboten. Um ein wenig zu raffen: Man kann den "Zauberberg" im Lichte der Philosophie Friedrich Nietzsches lesen. Das geht. Und es geht gut. Man kann ihn aber auch im Lichte der Philosophie Arthur Schopenhauers lesen. Das geht. Und ebenso gut. Auch ein Vergleich gerade des Schlußsatzes mit der Schlußszene von Wagners "Götterdämmerung" bietet manchen Aufschluß. Weiterhin kann man das Verbindende zum Werk des Bruders Heinrich darstellen, und es bleibt doch genug übrig, um auch das Trennende nicht außer acht zu lassen.

Die Frage drängt, wie wir uns bei alledem fühlten. Nun, wir fühlten uns ein bißchen - erhitzt. Und haben zur Sicherheit Temperatur gemessen, digital: 37,02 am Montag, 36,86 am Dienstag; 37,36 am Mittwoch nachmittag, dazu Schluckbeschwerden irgendwo im Schlund ganz hinten links. Tapfer haben wir trotzdem im Kellergeschoß ausgeharrt und waren doch ein wenig in Furcht, daß uns bei allem Nietzsche und der ganzen "Götterdämmerung" und all den Schopenhauereien, daß uns also bei und über alledem verlorengeht, warum wir den "Zauberberg", diese unmögliche Schwarte, ein so saumäßig gutes Buch finden, so derart beinahe unbeschreiblich obergut, daß wir beim Nachdenken geradezu Gesichtshitze zulegen.

Es fiel uns zum Glück wieder ein. Dank Terence James Reed. Welch ein Name! Terence James Reed lehrt Literatur am Queen's College in Oxford. Und er meint, daß der erste große Weltkrieg, der die Sanatoriums-Gesellschaft des "Zauberbergs" auf Seite 750 jäh verwirft, daß sich also die Frage nach dem Grund dieses Krieges durch den ganzen Roman zieht. Noch mehr: daß Hans Castorp in seinen sieben Zauberberg-Lehrjahren zwar kein Rezept gegen diesen Krieg findet, wohl aber ein Prinzip - die Mündigkeit des Individuums, Selbständigkeit in Denken und Handeln, persönliche Autonomie; mithin die Grundgedanken europäischer Aufklärung. Wobei der Dichter mit gutem Grund offenlasse, ob dies wenige als Gepäck ausreicht, um einen Krieg zu überleben. Vielleicht aber hätte es ja genügt, kommende Kriege zu verhindern. Reed bezeichnete Manns Haltung als "Pessoptimismus" - man wisse um das Schreckliche und strebe doch das Gute an.

Jajaja, klatschten wir da in die Hände. Leute, es ist August 1996, und er muß wohl sein, der eine oder andere resümierende Blick auf dieses Jahrhundert. Und da kommen wir um das deutsche Bürgertum nicht herum und um die Frage, warum es eigentlich so hoffnungslos versagt hat. Warum es seine Männer nach Verdun ziehen ließ und warum es die Weimarer Republik nicht mochte und warum es Hitler unterstützte und warum es hinterher von allem nichts wissen wollte. Warum, warum, warum?

Wer das wissen will, der lese Thomas Mann, der dieses deutsche Bürgertum in all seinen Ambivalenzen zum Ausdruck gebracht hat. Mit all dem Nietzsche und Goethe und Wagner, mit all der Aufklärung, all dem Okkulten, mit all den guten Tischmanieren und all dem Erhobenen und Erhabenen, dazu noch jede Menge gründlich Verklemmtes. "Der Zauberberg" ist die große Kleider- und Klamottentruhe des deutschen Bildungsbürgers, und wer etwas verstehen will vom deutschen Bürger, der darf drin wühlen.

Nochmals zu Mister Terence James Reed, dem Herrn aus Oxford. Er fügte nämlich noch etwas hinzu, das uns wichtig erschien: "Noch immer verweigert man Thomas Mann die Rolle des Politischen, gerade in Deutschland. Dabei war er politisch weitsichtiger als viele andere. Vielleicht nimmt man ihm gerade das übel."

Über all das war es Samstag geworden. Es hieß wieder heimwärts fahren. Wir saßen in der Rhätischen Bahn, die mit streng angezogener Bremse zu Tale fuhr, und sinnierten über jenen Satz, den Thomas Mann seinen Helden Hans Castorp denken läßt, als es ihm im Kapitel "Schnee" beinah an den Kragen geht. Diesen Satz - wir sind autorisiert, ihn hier zentral zu heißen - ließ der Autor um der Einfachheit willen gleich in Kursiv drucken, und er lautet: "Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken." Seite 523, so mittendrin. Weiterdenken ging dann aber nicht. Die rhätischen Bremsen quietschen gar zu laut.

2. Wunderlich


II - Sek. Heißerer Maar Sprecher...